Nur keine falsche Gemütlichkeit
FAZ, 25.November 2006
Gerhard R. Koch
Die Kreativität war keineswegs erloschen: Kuriositäten fürs Klavier, aufgespürt im Spätwerk Robert Schumanns
Glenn Gould hatte einen Vorgänger als Musikliterat: So wie der kanadische Pianist den „reifen“ Mozart geringschätzte, gar fand, er sei eher zu spät gestorben, so findet sich bei Felix Dräseke der bittere Satz: „Schumann hat sich vom Genie zum Talent heruntergearbeitet. „Diese Formel treibt jeden Schumannianer um: Ist der „späte“ Schumann tatsächlich so viel schwächer als der „frühe“ oder „mittlere“ – oder ist dies nur Vorurteil oder aber Unfähigkeit, die Spezifika eines anderen Idioms zu erfassen? Evident freilich, unentziehbar sind der Elan der frühen Klavierwerke, die Verzauberung der Zyklen des Liederjahrs (1840). Doch Ende der vierziger Jahre, so die These, sei der Spannungsbogen gesunken, die Kreativität erloschen – Folge geistiger Zerrüttung, bis zum Tod Schumanns in Endenich 1856.
Dabei wirkt sein Spätwerk janusköpfig. Das, was man der Verwirrung, gar Zerrüttung zuschreiben könnte, äußert sich allenfalls in ruheloser Zerfaserung des Verlaufs, einer quasi dekonstruktivistischen Tendenz. An ebendieser haben sich einige Komponisten unserer Zeit enthusiastisch orientiert: Dieter Schnebel, Hein Hollinger oder Wolfgang Rihm. Dem gegenüber steht ein Nachlassen des Irregulären: Formal wie harmonisch nimmt die klassizistische Schlichtheit im Spätstil Schumanns zu. Einheitlich jedenfalls ist er keineswegs, auch insofern verbietet sich eine Polarisierung. Partiell bleibt Schumann also ein unbekannter Komponist. Dem hilft das neue Album der Pianistin Angelika Nebel in gleich mehrfacher Weise ab, setzt es doch den offiziellen späten Raritäten erst recht verborgene entgegen – und außerdem Allbekanntes in ein korrigierendes Licht.
In den Jahren 1849 bis 1853 wandte sich Schumann einem Genre zu, das im späten 18. und dann wieder 19. Jahrhundert beliebt war: dem Melodram, Rezitationen zur Klavierbegleitung. Werden Schumanns Melodramen heute überhaupt noch aufgeführt, begegnet man am ehesten noch der „Ballade vom Haideknaben“, einem tonmalerisch-filmischen Horrorstück ohnegleichen, in dem der Junge seine Ermordung träumt, die sich dann genau so vollzieht. Chromatische Imitationen erzeugen das schaurige Gefühl eines sich zusammenziehenden Netzes. Seltsamerweise stellte Schumann anheim, dieses und die Melodramen „Schön Hedwig“ und „Die Flüchtlinge“ auch „ohne Declamation als selbstständiges Clavierstück“ auszuführen. Nebel folgt der Anregung in dieser Ersteinspielung. Auch wenn man ohne Textzusammenhang den Ablauf nur bedingt versteht, immerhin: eine Trouvaille.
Wenig bekannt sind auch die „Geister-Variationen“ von 1854, laut Johannes Brahms „Schumann’s letzter musikalischer Gedanke“: abgeklärte, fast seraphische Umschreibungen eines kantablen Es-Dur-Themas. Zum Korpus des späten Schumannschen Klavierwerks gehören weiter die drei Fantasiestücke op. 111 und sein letzter Zyklus. „Gesänge der Frühe“ op. 133. Dem ersten Fantasiestück die Abhängigkeit vom weit überlegenen „In der Nacht“ aus den Fantasiestücken op. 12 vorzuhalten ist leicht; trotzdem überzeugt es in seiner unruhigen Erregtheit. Die „Gesänge der Frühe“ sind ebenfalls mit den frühen Serien nicht zu vergleichen, lassen gleichwohl in ihrem eigentümlichen ziellos Vagierenden weit mehr als nur einen Abglanz einstiger Energie-Phantastik aufleuchten.
Über wenig lässt sich so endlos diskutieren wie über Tempi, „richtige“ und „falsche“, gar über „authentische“, verbindliche, erst recht realisierbare Metronomzahlen. Wobei in manchen Fällen die Komponisten extrem schnelle Werte vorgaben: Beethoven, Schumann, Bartók, Schönberg.
Die Angaben Schumanns zu den „Kinderszenen“ und „Arabeske“ irritieren durch ungewohnte Zügigkeit. Selbst Alfred Brendel, der sie generell verteidigt, rät bei einigen Stücken zur Mäßigung. Klar ist ohnehin, dass sklavischer Gehorsam wenig bringt, zudem die zahlreichen Ritardandi relativierend wirken. Dennoch gilt: Befolgt man die „originalen“ Tempi, entschwindet manch falsch biedermeierliche Gemütlichkeit, die Musik spricht frischer. Die Interpretation Angelika Nebels, undogmatisch flexibel, setzt sich souverän für die späten Raritäten, gegen verschleppende Tradition ein. Sie hilft, Schumann neu zu entdecken.