Spuren einer assimilierten jüdischen Familie: Untergang und Emigration
Von Petra Kammann
Erschütternd ist das Schicksal des einstigen grandiosen Organisten der Westend-Synagoge Siegfried Würzburger (*1877 in Frankfurt, †im Ghetto Łódź). Wie unbekannt und wie berührend die Geschichte der assimilierten jüdischen Musikerfamilie Würzburger doch ist! Ihr widmete die Musikhistorikerin Ulrike Kienzle im Holzhausenschlösschen einen kenntnisreichen Vortragsabend im Rahmen der Reihe „Musikstadt Frankfurt“ – mit interessanten Musikbeispielen, mit einer Aufzeichnung der Passacaglia und Fuge über „Kol Nidre“ vom renommierten Organisten der Katharinenkirche Martin Lücker sowie zwei live gespielte Passacaglia-Klaviertransformationen „Kol Nidre“ und „Moaus Zur“ der Piano-Professorin und Pianistin Angelika Nebel. Für die Westend-Synagoge hatte Würzburger mehrere schöne Stücke zu hohen jüdischen Festtagen komponiert…
Die Geschichte ist gleich von mehreren Seiten her aufzurollen, was die Musik- und Literaturwissenschaftlerin Ulrike Kienzle in ihrer bewährt engagierten und sachlich-präzisen Art auch bestens gelungen ist durch ihre geschickte Präsentation – eine Mischung aus Bildern, Fotos und Briefdokumenten, eingespielten musikalischen Beispielen und der Moderation eines Live-Piano-Beitrags der Pianistin Prof. Angelika Nebel, die das für die Synagoge komponierte Orgelwerk von Siegfried Würzburger „Passacaglia und Fuge für „Kol Nidre“, für das Klavier ebenso transformiert hatte wie die „Passacaglia. Thema und Variationen über „Moaus Zur“. „Kol Nidre“ ist die Melodie, mit der das Abendgebet zum höchsten jüdischen Feiertag „Jom Kippur“ beginnt. Würzburger greift diese alte melancholische Melodie mit aramäischen Text auf und variiert sie höchst kunstvoll nach den Regeln der westeuropäischen Tradition. Davon zeugte eine Orgeleinspielung von Martin Lücker aus dem Jahr 2013.
Um über die Bedeutung des einst hoch renommierten Organisten Siegfried Würzburger zu sprechen, der seine Orgel-Ausbildung bei dem Organisten der Katharinenkirchen Karl Breidenstein (1871 – 1966) genossen hatte, muss man sich generell die Situation der Musik in Frankfurt um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert vor Augen führen, die stark von jüdischen Musikern und Stiftungen geprägt war.
Die in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts neu entstandene prächtige Frankfurter Westend-Synagoge war für die liberalen Westend-Juden von dem Liechtensteiner Architekten Franz Roeckle errichtet worden, für das er viel Lob erhielt, was ihn dennoch nicht daran hinderte, später antisemitische Züge an den Tag zu legen und als späterer Nazi jüdische Menschen zu verraten und ans Messer zu liefern. Doch das ist eine andere und äußerst unappetitlich-traurige Geschichte…
Jedenfalls wurde in diese glanzvolle, 1910 eingeweihte Jugendstil-Synagoge damals auch eine prächtige Walcker-Orgel mit 46 Registern auf drei Manualwerken und Pedal eingebaut, was eigentlich ganz untypisch für eine traditionelle Synagoge war, in der vor allem gesungen und gebetet werden sollte. Auch hierzu bot Kienzle Musik-Beispiele von Vorsängern.
Aber schon am 10. November 1938 wurde das kostbare Innere zerstört, als ein SA-Trupp gegen den Widerstand des christlichen Hausmeisters sich gewaltsam Zutritt zum Innenraum verschaffte und dort Feuer legte. Die Orgel wurde zwar nicht zerstört. Sie blieb erhalten, wurde aber nach dem Krieg an der Westwand platziert, weil sie den orthodoxen Juden ein Ärgernis war, weswegen man sich dann nicht mehr darum kümmerte. Nicht nur musikhistorisch ein Jammer, denn heute ist sie leider unspielbar. Und es wäre wunderbar, wenn es Unterstützer gäbe, die sie wieder renovierten, um der Synagoge ein Teil des Glanzes zurückzugeben!
Anders als bei den übrigen Frankfurter Synagogen löschte die herbeigeeilte Feuerwehr zwar den Brand, um das Übergreifen auf die benachbarten Gebäude zu verhindern. Trotzdem war der Innenraum durch das Feuer schwer beschädigt worden und die Synagoge unbenutzbar geworden, wodurch der damalige hochrenommierte Organist, Bachkenner und Komponist Siegfried Würzburger seine Stelle verlor und die Familie Würzburger, die stets ein weltoffenes Haus mit viel Musik geführt hatte, immer weiter ausgegrenzt wurde.
Unmittelbar nach dem Brand hatte sich nämlich der Terror gegen die jüdische Gemeinde fortgesetzt. So war auch Caesar Seilgmann, der liberale Rabbiner der Westendsynagoge, im Konzentrationslager Dachau inhaftiert worden. Nach seiner Freilassung im April 1939 gelang ihm dann die Emigration nach England, wo er Rabbiner der deutschsprachigen jüdischen Gemeinde Londons wurde.
Die Familie Würzburger war in Frankfurt bestens vernetzt, sie führte ein offenes Haus und lebte förmlich für die Musik. So war Würzburgers Frau Gertrude, geb. Hirsch, mit Edith Frank, der Mutter von Anne Frank, befreundet. Sie unterrichtete Religion, Englisch und Französisch an der Holzhausenschule. Und gemeinsam mit ihrem Ehemann war sie dazu noch Mitveranstalterin der Reihe „Jugend musiziert“.Außerdem gab sie wie ihr Ehemann auch Privatstunden für Klavier und Musikunterricht für Schüler aller Art und Herkunft.
Das Ehepaar Würzburger, Gertrude Würzburger, ursprünglich aus Offenbach und Siegfried Würzburger aus Frankfurt, hatte vier Söhne: Hans, Walter, Paul Daniel und Karl Robert. Auch alle vier Söhne nahmen rege am Frankfurter Musikleben teil, gingen in die Oper und ins Konzert; einer von ihnen studierte in der Jazz-Klasse an Dr. Hoch’s Konservatorium.
Zunächst wohnten sie in der Lange Straße 63 (Hans-Handwerk-Straße), dann in der Friedberger Landstraße 9, und ab 1929 in der Bockenheimer Landstraße 9 (Hier erinnern heute 3 Stolpersteine an sie), 1938/39 mussten sie gezwungenermaßen in die kleinere Wohnung in die Bockenheimer Landstraße 73 umziehen, denn zunehmend schwanden auch die Einkünfte.
Dieselben Musikerinnen und Musiker, denen die kunstbegeisterte Frankfurter Bürgerschaft noch bis zum Beginn der 1930er Jahre zugejubelt hatte, wurden von heute auf morgen verfemt und verfolgt. Nach dem Einzug der Nazis erinnerte in Frankfurt nichts mehr an den Pioniergeist der 1920er Jahre der Weimarer Republik mit der beispiellosen Blüte der Frankfurter Moderne. So brach auch der Nationalsozialismus in das Leben der Familie ein. Siegfried Würzburger verlor den größten Teil seiner Schüler.
Für ihn, der viele Jahre, seit 1911, als Organist in der Westend-Synagoge gewirkt hatte, kam aufgrund seiner Seh-Behinderung und der Krankheit seines ältesten Sohnes Hans eine Emigration nicht in Frage. Weil er beinahe vollständig erblindet war und der Sohn Hans stark an Asthma litt, konnte die Familie nicht ins Exil fliehen. Seit etwa 1930 lebte dazu die Schwiegermutter mit im Haushalt der Familie. Sie starb 1939.
Hans Würzburger hatte die Musterschule besucht und dort das Abitur abgelegt. Er arbeitete als Kaufmann bei der Firma „Schwarzschild Ochs“ in Frankfurt. Doch nach der „Arisierung“ des Unternehmens verlor er verfolgungsbedingt seine Arbeit.
Den jüngeren Söhnen hingegen gelang dagegen die Flucht, der jüngste von ihnen gelangte mit einem der letzten Kindertransporte außer Landes nach London. Dem Musiker Walter Würzburger gelang 1933 zunächst die Flucht in das französische Exil nach Paris und dem Kaufmann Max Würzburger gelang 1936 die Flucht in das französische Exil. Seine Frau Clasine, geb. Martin und ihren beiden Töchtern gelang 1936/37 die Flucht in das britische beziehungsweise schweizerische Exil.
Paul Daniel Würzburger emigierte 1939 nach Palästina und machte später mit der jüdischen Brigade den Vormarsch der britischen Armee bis Friaul (Italien) mit. Karl Robert Würzburger (heute Kenneth Ward), der später ebenfalls in der britischen Armee gegen Hitler-Deutschland kämpfte und als Manager erfolgreich wurde, gelang im Alter von 16 Jahren im August 1939 mit dem letzten „Kindertransport“ die Flucht nach England.
Siegfried Würzburger blieb keine Wahl. Er wurde 1942 deportiert, starb am 12. Februar 1942 in Łódź, wie auch Hans, während seine Frau Gertrude im Vernichtungslager Chelmno (Kulm) ermordet wurde.
Ein kleiner Trost zum Ende dieser traurigen Geschichte: Spuren seines Musikenthusiamus sind erhalten geblieben. Immerhin hatte Siegfried Würzberger bis zum Schluss eine tapfere und überzeugte Klavier-und Orgel-„Schülerin“, Martha Sommer,verheiratete Hirsch. Sie hat glücklicherweise die Kompositionen ihres einstigen Lehrers im Exil aufbewahrt und als 16-Jährige schon bemerkenswert Tagebuch geführt. Ihre Aufzeichnungen las Ulrike Kienzle vor. Versöhnlicher klangen dann auch die sehr modulierten Töne der verbliebenen beiden Kompositionen Würzburgers, die Prof. Angelika Nebel zum Schluss voller Innigkeit auf dem Flügel vortrug. Viva la Musical!
Dr. Ulrike Kienzle ist Privatdozentin für Musikwissenschaft und arbeitet als freie Autorin und Forscherin, als Kuratorin und Dozentin. Sie hat zahlreiche Veröffentlichungen über Richard Wagner, Franz Schreker, Robert und Clara Schumann, Giuseppe Sinopoli sowie über das Musikleben von der Goethezeit bis zur Gegenwart vorgelegt. Sie ist Ko-Kuratorin für Musik im Deutschen Romantik-Museum und Dramaturgin der Brentano-Akademie Aschaffenburg. Seit 2021 realisiert sie in der Alten Oper Frankfurt die Reihe „Kienzles Klassik: Musikseminare für Wissbegierige“. Im Auftrag der Frankfurter Bürgerstiftung hat sie die beiden Ausstellungen Drei Generationen Mozart in Frankfurt (2005) und Robert und Clara Schumann in Frankfurt (2010) kuratiert, 2013 eine Studie über die Frankfurter Mozart-Stiftung vorgelegt und 2014 ein von ihr wiederentdecktes Streichquartett von Max Bruch herausgegeben. 2019 kuratierte sie die vielbeachtete Ausstellung „Clara Schumann: Eine moderne Frau im Frankfurt des 19. Jahrhunderts“ im Institut für Stadtgeschichte. Seit 2021 erforscht sie im Auftrag der Frankfurter Bürgerstiftung die Musikstadt Frankfurt. Flankiert wird das umfangreiche Projekt von Online-Essays, Vorträgen, Konzerten und Teilausstellungen. Zum Abschluss wird sie 2026 eine zweibändige Buchpublikation vorlegen.
Prof. Angelika Nebel war von 1995 bis 2014 Professorin an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf. Sie gastierte bei zahlreichen Festivals wie u.a. dem Rheingau Musik Festival. Ihre CDs mit J.S. Bach – Klaviertranskriptionen wurden von der Presse mit dem Begriff ‚Alleinstellungsmerkmal‘ bedacht und im FONO FORUM besonders ausgezeichnet. Sie gilt als Pionierin der Klaviermusik von Clara Schumann und machte in den letzten Jahren mit Kompositionen von Siegfried Würzburger oder Wolf Rosenberg auch vergessene Komponisten wieder hörbar. Angelika Nebel lebt in Frankfurt am Main.
CD-Tipp
Die Pianistin Angelika Nebel hat Werke von Siegfried Würzburger (1877–1942), der von 1911 bis 1938 Organist an der neu eröffneten Frankfurter Westend-Synagoge war, eingespielt. Zu den wenigen von Würzburger erhaltenen Kompositionen zählen die „Passacaglia über ´Moaus-zur´“ und „Passacaglia und Fuge über ´Kol Nidre´“, die 1933 bzw. 1934 entstanden.